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Internationaler Wettbewerb Tahrir-Platz, Kairo
Wettbewerbsvorschlag für eine erste Phase, 1. Preis, 2011/2012
Erläuterungstext

Grundlagen

Der komplexe Arabische Frühling, mit seinem wichtigen Anteil in Kairo, auf dem Tahrir-Platz beeindruckt einerseits durch die unglaublichen, sich selbst organisierenden Menschenmassen an diesem Dreh- und Angelpunkt im städtischen Gefüge Kairos, andererseits hat jeder Einzelne seinen Anteil in der Masse.
Das Individuum und die Masse, erscheint hier als konkretes Phänomen, das durch die neuen Medien, durch schnelle Kommunikationsmedien, wie Twitter, facebook, blogs u. a. m., über Mobilephones, Computer und die dazugehörigen virtuellen Foren raumumspannend wirksam werden kann. Über diese neuen Medien, die sich auch durch ihre Geschwindigkeit – zunächst noch – schlecht kontrollieren lassen, kann sich der Einzelne informieren und ortsunabhängig oder ortsbezogen dann auch in der Masse einfügen.
Information können zeitnah sofort länderübergreifend gestreut werden.
Studiert man die Photodokumentationen, so fällt u.a. neben den hochgehaltenen Schuhen der Anteil der hochgehaltenen Mobiles wiederholt auf, ob als Nachrichtenübermittler oder als Photogerät.
Der Ort selbst, der sich einerseits über historische Ereignisse definieren vermag, wie z. B. die Brotunruhen (1977), Demonstrationen gegen den Irakkrieg (2003) u. a. m., ist andererseits – systemimmanent für einen Verkehrs-Kreisel – natürlich sehr gut mit dem Netz der Stadt verknüpft – dieses Verknüpfungspotential macht ihn – über seine historische Bedeutung hinaus - auch städtebaulich so interessant.
Ort und Stadt kommunizieren hier ebenfalls sehr direkt, so wie die digitalen Medien viel weiter den Ort mit der Welt verspannen.
Im unruhigen, eher heterogenen städtebaulichen Gefüge konzentrieren wir uns – flächenbezogen – gestalterisch zunächst nur auf den einprägsamen Kreisel, der als eindeutige Figur den Ort auch zukünftig idenditätsstiftend zu prägen vermag.
Hinzu kommt die räumliche Nähe zum Mogamaa Government Building, das architektonisch wie inhaltlich, fast symbolisch und bühnenbildhaft eine alte Welt und Regierungsform darstellt.
Der Dialog zwischen diesem Gebäude und der Platzfläche wird ein Bestandteil dieses Konzeptes sein.
Zum Erinnern gehört aber auch das Wissen – das Wissen soll als wesentliche Grundlage an diesem authentischen Ort kontinuierlich zur Verfügung gestellt werden können.

Konzept

Tausende Fuß- oder Schuhabdrücke, in der Platzfläche als abstrahiertes Muster in den Belag eingelassen, werden so angeordnet, daß sie einerseits als individuelles Fuß- oder Schuhpaar wahrgenommen werden, jedoch in der Masse durch dichte und etwas weitere Anordnungen diese Fläche in stetes Schwingen versetzen (Moiré-Effekt).
Die Fläche bleibt dadurch optisch kontinuierlich in Bewegung.
Neben dem einzelnen, individuellen Schuh- oder Fußpaar, das in der riesigen, schwingenden Masse aufgeht, werden die Toten in ihrer Anzahl – zunächst noch anonym über eine würdige Farbkennzeichnung oder ein besonderes Material (z. B. Bronze) innerhalb der Fußpaare markiert – die Namen und die Geschichten zu diesen Personen werden jedoch am Ort des Wissens und Erinnerns detailliert zur Verfügung gestellt. Ergänzt wird diese Belagstruktur durch ein gleichmäßiges Raster mit belagsbündigen Infrastrukturelementen für Wasser, Strom und Montageangebote für Zelte u. a. temporäre Behausungen.
Der Kreisel wird zum Verkehrsraum über ein umlaufendes Belagband gekennzeichnet, in dem die wesentlichen Ereignisse an diesem Ort in den Weltsprachen aufgeführt werden.
Daß die Nutzungen bei Demonstrationen diese Fläche überschreiten werden, ist klar und jederzeit möglich – gestalterisch wird eine Aussage aber nur innerhalb der einprägsamen Kreiselfigur vorgetragen. Dominiert wird diese schwingende Fläche von einer ca. 30,00 m hohen Stele, die über ihre Lichtfelder als Seismograph jede Veränderung der sozial-politischen Situation widerspiegelt.
Positioniert wird dieses zeichenhafte Objekt so, daß es als Erinnerungszeichen meist vor dem Regierungsgebäude wahrgenommen wird – dieses Objekt der "alten Zeit" wird bewußt als Hintergrund eingesetzt, bühnenbildgleich, die Platzfläche in ihrer Nutzung liegt offen davor.
Andererseits blickt die Schauseite des Regierungsgebäudes mit seinen vielen Büros stets auf diese soziale, sich wandelnde Skulptur – als Verpflichtung, wie als Mahnung.
Die Fernwirkung in den einen oder anderen Straßenzug wird berücksichtigt, so daß sich die Strahlkraft in die Raumtiefe entsprechend stark entwickeln kann.
Informationen über Twitter, facebook u. a. blogs werden an diesem Ort gebündelt und im Objekt selber für alle Zeiten auch gesichert, als Wissensspeicher, im Inneren, im Ort des Wissens.
Gleich einem Erdbebenwarner, einem seismologischen Observatorium, gespeist durch digitale Meldungen, zeigt dieses Objekt über seine sich verändernden Lichtfelder, je nach Eingang der Meldungen, der Dichte der Diskussionen, verschiedene soziale Befindlichkeiten an: von einem Normalzustand bis zu einem Warnzustand, wenn alle Felder leuchten, reagiert diese soziale Skulptur sehr sensibel im Dialog mit den neuen Medien, ohne die auch die bisherigen Kundgebungen nicht möglich gewesen wären.
Sollte der "soziale Seismograph" gar nicht leuchten, nicht "arbeiten" können, ist dies aber auch als Warnzustand zu deuten: Wenn eine Regierungsform in diesen digitalen Dialog und Informationsfluß eingreift und ihn evtl. lahmlegt, dann wird auch dieser Zustand im öffentlichen Stadtraum deutlich gezeigt.
Im Sockel wird ein Ort der Ruhe, des Wissens und der Erinnerung installiert – alle digitalen Inhalte werden dort gebündelt, gesichert, verwaltet und einem stets wachsenden Wissensspeicher gleich, jedem Besucher zur Verfügung gestellt.
Den Toten wird dort mit Namen, Lebensdaten, Biographie und persönlicher Geschichte die notwendige Reverenz erwiesen – nichts aber auch gar nichts und niemand der sich hier für eine freie, offene, demokratische Lebensform engagierte und weiter engagiert, wird dem Vergessen überlassen.
Der Raum ist bewußt sehr klein gehalten, so daß der einzelne Besucher zu sich, zur Ruhe, zum Erinnern gelangt. Diese eher individuelle Ruhe steht im Dialog aber auch Kontrast zur durch unzählige, tausende Fuß- und Schuhspuren sich optisch auf- und abschwingenden Platzfläche.
Kleine Öffnungen lassen den Ausblick auf das Regierungsgebäude zu – ansonsten bleibt der Raum sehr introvertiert.
Einzig die Höhe im Inneren überrascht: Eine extrem längsgezogene Kuppel, auf deren Innenflächen großformatige Bilder projiziert werden können, wird als ausdrucksstarkes architektonisches Innenraumerlebnis angeboten.
Die soziale Lichtskulptur wirkt natürlich umso dominanter bei Dunkelheit, die selbstregulierende LED-Technik ist aber auch eindeutig bei Tageslicht sichtbar.
Es werden bewußt wenige bindende Bausteine eingesetzt, einerseits um eindeutig und zeichenhaft im heterogenen Stadtgefüge wirksam werden zu können, andererseits um jederzeit auch ausreichend frei, zukünftige Nutzungen und Möglichkeiten zuzulassen. Vergangenheit und Zukunft werden hier sehr direkt – auch mit zeitgenössischen Gestaltungsmöglichkeiten und Technologien – miteinander vernetzt.

Artikel in STUTTGARTER-ZEITUNG.DE vom 15.05.2012


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